Interview mit Viktor Orbán für die BILD Zeitung
Veröffentlicht am 25 Februar 2016
Herr Ministerpräsident, Sie haben gestern im Zusammenhang mit der Migrationskrise angekündigt, eine Volksabstimmung zu initiieren. Wollen Sie Europa spalten?
Ich habe in Ungarn im Interesse der Ablehnung der obligatorischen Aufnahmequote in der Tat eine Volksabstimmung initiiert. Wir können nicht über die Köpfe der Menschen hinweg Entscheidungen treffen, die ihr Leben schwerwiegend ändern und auch das Leben künftiger Generationen bestimmen. Und die Quote zeichnet ein neues ethnisches, kulturelles und Religionsprofil in Ungarn und Europa. Ich habe diese Entscheidung nicht gegen Europa, sondern zum Schutz der europäischen Demokratie getroffen, denn was ist das Grundprinzip von Demokratie? Es ist am Ende die Treue zur Nation. Wir Mitteleuropäer wissen aus historischer Erfahrung: Früher oder später werden wir unsere Freiheit verlieren, wenn wir nicht die Interessen unserer Bürger vertreten. Wir wollen nicht spalten, sondern unsere Bürger schützen. Das heißt: Wir wollen nicht, dass Migranten zu uns kommen. Warum sollten wir die Probleme westlicher Staaten zu uns importieren wollen?
Zählen für Sie nationale Interessen Ungarns mehr als Europa?
Europa entsteht aus der Gesamtheit der nationalen Interessen. Europa-Politik kann nicht den Interessen von Einzelstaaten entgegenstehen. Was schlecht ist für Deutsche, Österreicher oder Ungarn, das kann keine gute EU-Politik sein.
Für Helmut Kohl ist Europa stets eine Herzensangelegenheit. Fliegt uns jetzt – 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges – Europa um die Ohren?
Ich zähle mich zu den Schülern von Helmut Kohl. und ich freue mich, dass der größte Vordenker Europas heute noch unter uns ist. Helmut Kohl hätte nationale Interessen niemals hinter europäische Interessen gestellt. Als Bundeskanzler wusste er immer: Nur aus nationalen Bedürfnissen und Interessen kann ein europäischer Plan zusammengesetzt werden.
Was im Moment droht, uns um die Ohren zu fliegen, das ist das Chaos in Brüssel, die Lähmung der Union.
Was stört Sie am meisten?
Dass Brüssel die Kultur des Vertragsbruchs duldet und vorantreibt. Die Maastricht-Kriterien, Schengen, Dublin – nichts gilt mehr. Deutschland, Österreich und natürlich auch Ungarn berufen sich darauf, gemeinsame Regeln und Verträge einzuhalten. Doch die Präsidenten der europäischen Institutionen setzen eigentlich auf den dauerhaften Vertragsbruch. Wenn wir uns an unsere Verträge nicht mehr halten, dann zerfällt Europa.
Ihr slowakischer Kollege, Premier Fico, wirft den Deutschen ein „Diktat“ in der Flüchtlingsfrage vor. Teilen Sie diese Sicht?
Ich würde nicht von einem ‚Diktat’ sprechen. Deutschland ist jedoch eine Großmacht in Europa, der Druck aus Berlin hat Kraft. Diese Überlegenheit spürte man in Gegenwart von Helmut Kohl geradezu körperlich, durch seine Statur (lacht). Aber Kohl hat uns kleinere Länder das niemals spüren lassen. Ihn haben wir nicht nur respektiert, sondern wirklich gern gehabt, und er mochte uns auch. Heute ist der Ton aus Deutschland schroff, grob und aggressiv. Das ist im gegenwärtigen Chaos der Migrationskrise ein großes Problem. Denn die Deutschen und wir Mitteleuropäer bewahren die Grundwerte Europas: das christlich-jüdische Weltbild, die Verlässlichkeit, dass Verträge eingehalten werden. Wir sollten zusammenstehen statt zu streiten. Zumal aus Brüssel ganz andere Signale kommen: Multi-Kulti, Unordnung, Vertragsbruch.
Ist der deutsche Alleingang Schuld am Flüchtlingsdesaster in Europa?
Nein, Auslöser der Flüchtlingswelle war das Chaos im Mittleren Osten, in Syrien und Irak. Die deutsche Bundeskanzlerin hat darauf nur reagiert und die Migranten willkommen geheißen. Dabei hatte sie gewiss das Wohl ihres Volkes im Auge. Und ich wünsche Frau Merkel von Herzen, dass sie das schafft, was sie begonnen hat. Wir Ungarn behalten uns aber das Recht vor, keine solchen Experimente zu starten, weil wir denken, dass das im Interesse unseres Volkes steht.
Experimente?
Wer sich massenhaft nicht-registrierte Zuwanderer aus Nahost ins Land holt, importiert auch Terrorismus, Kriminalität, Antisemitismus und Homophobie. Wir Ungarn sind ein Schmelztiegel der Kulturen. Hier in Budapest steht die größte Synagoge Europas. Und nur einen Steinwurf entfernt eine der größten katholischen Kathedralen des Kontinents. Christen und Juden leben miteinander, nicht nebeneinander. Es gibt keine Ghettos und keine no-go-areas, keine Szenen wie zu Silvester in Köln. Diese Bilder aus Köln haben uns Ungarn zutiefst berührt. Ich habe selbst vier Töchter. Und ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer Welt aufwachsen, in der Köln passieren kann.
Vor fünf Monaten – als Deutschland die Grenzen öffnete – sagten Sie im BILD-Interview: „Artikel 1 der ungarischen Verfassung lautet: Die deutsche Kanzlerin macht immer alles richtig“. Gilt das bis heute?
Ja, mit einer Ergänzung: Wir müssen den Deutschen dennoch nicht alles nachmachen. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist nicht alternativlos, aber ich sehe keine Alternative für Frau Merkel.
Gefallen Sie sich in der Rolle des größten Gegenspielers der Bundeskanzlerin.
Mir selbst geht es nicht um ein Schaulaufen oder einen Schönheitswettbewerb. Politiker werden nicht gemocht, weil sie Recht haben. Aber Fakt ist: Hätten Berlin und Brüssel vergangenen Sommer auf uns Mitteleuropäer gehört, dann hätten wir heute allenfalls einige Zehntausend echte Flüchtlinge in Europa und nicht über eine Million unkontrollierte Migranten. Wir haben von Anfang gefordert: -Zuwanderer stoppen, registrieren und trennen– in echte Notfälle und Wirtschaftsmigranten.
Welche Fehler hat Angela Merkel gemacht, dass sie in Europa jetzt so isoliert da steht und von Ihnen im Stich gelassen wird?
(lacht) Hier greift Artikel 2 der ungarischen Verfassung: Erteile der deutschen Kanzlerin niemals Ratschläge! Aber im Ernst: Ich denke, dass die europäische Politik sich in der Migrationsfrage zunehmend isoliert und einigelt. Politiker hören – nicht nur in Deutschland – zu wenig auf ihr Volk. Wer die Frage der Zuwanderung ohne die Bürger zu fragen und gegen den Willen der Menschen entscheiden will, steht auf verlorenem Posten.
EU-Kommissionspräsident Juncker sagt, Frau Merkel werde von der Geschichte Recht bekommen. Hat Juncker Recht?
Die Geschichte wird sich von Herrn Juncker nicht stören lassen. Warten wir mal ab, wie die Geschichte über Frau Merkel urteilt, ohne die Hilfe von Herrn Juncker.
Nach dem Visegrad-Treffen gab es Kritik an Ungarn. Motto: Wer Solidarität erfährt, muss auch Solidarität zurück geben. Schließlich ist ihr Land einer größten Empfänger von EU-Hilfen, Deutschland der größte Nettozahler…
Wir schulden Deutschland gar nichts, und die Deutschen schulden uns auch nichts. Deutschland hat uns bei der Aufnahme in die EU beigestanden. Dafür sind wir dankbar. Aber dann hat Ungarn seinen Markt für alle EU-Staaten geöffnet. Davon haben alle profitiert. Wir sind also quitt. Ich habe inmitten der Finanzkrise, zu Beginn unserer Regierungstätigkeit, in 2010 gesagt: Wir wollen uns nicht mit deutschen Geld retten. Und so wurde es auch: Wir haben unsere Kredite beim Währungsfond aus eigener Kraft vorzeitig zurückgezahlt. Und noch in diesem Jahr werden sämtliche EU-Schulden bis zum letzten Cent beglichen. Wir Ungarn leben nicht gern auf Kosten anderer, und wir wollen natürlich nicht, das andere auf unsere Kosten leben.
Die EU hat gegen den Willen mancher Mitglieder beschlossen, 160 000 Flüchtlinge zu verteilen. Wird Ungarn diese Quote einhalten?
Dieser Beschluss ist nicht legal, er widerspricht EU-Recht. Wir klagen dagegen, wie auch die Slowaken. Außerdem: Wie viele von den 160 000 wurden denn bisher verteilt? Gerade mal ein paar Hundert. Dieser Verteilungsschlüssel ist einfach Unsinn, er funktioniert nicht. Aber das will in Brüssel niemand zugeben.
Was wird aus Griechenland, wenn sich dort jetzt Hunderttausende Flüchtlinge stauen? Ist Ihnen das egal? Haben Sie noch Vertrauen in Griechenland – oder haben Sie das Krisenland längst abgeschrieben?
Die Tränen für Griechenland haben wir längst vergossen. Gebettelt haben wir lange genug. Wir haben jede Form der Hilfe angeboten: Geld, Personal, technische Unterstützung. 300 Offiziere für den Grenzschutz wären bereit gestellt worden. Aber alles wurde ausgeschlagen. Helfen kann man nur dem, der sich helfen lassen will. Jetzt sind die Griechen am Zug zu handeln.
Sind Sie dafür, Griechenland aus dem Schengenraum auszuschließen?
Die Verträge sind da eindeutig: Wer seine Aufgaben beim Schutz der Außengrenzen nicht erfüllt, muss die Konsequenzen tragen. Ich drücke den Griechen beide Daumen, aber Recht und Gesetz müssen auch sie einhalten.
Am 7. März soll es einen Sondergipfel der EU mit der Türkei geben. Für Angela Merkel ist die Türkei längst einer wichtigsten Verbündeten in der Flüchtlingskrise. Trauen Sie Ankara, trauen Sie Erdogan?
Präsident Erdogan zählt seit langem zu meinen persönlichen Freunden. Unser Verhältnis zur Türkei ist eng und vertrauensvoll. Unabhängig davon bin ich der Meinung, dass die EU den Türken gegenüber jetzt wie ein Bettler auftritt. Wir betteln bei Herrn Erdogan – im Gegenzug für Geld und Versprechungen – demütig um Sicherheit für unsere Grenzen, weil wir uns nicht schützen können. Das ist jedoch keine gute Politik. Denn sie macht Europas Zukunft und Sicherheit abhängig vom Wohlwollen der Türkei.
Sie sprachen jüngst von einem deutsch-türkischen „Geheimpakt“. Fühlen Sie sich erpresst?
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Brüssel macht den Türken jetzt Versprechungen, die wir gar nicht einhalten können – oder wollen. Der Plan, Hunderttausende Migranten aus der Türkei in Europa aufzunehmen und zu verteilen, ist eine Illusion. Denn kein EU-Land will und kann das wirklich umsetzen. Bildlich gesprochen: Mich würden sie hier in Budapest am Laternenmast aufhängen, wenn ich dem zustimmen würde.
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